Zwischen Nanowelt und Globaler Kultur
Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme

Datenblatt
15. Dezember 2002 bis 9. März 2003

Öffnungszeiten:
Dienstag 10 bis 20 Uhr Mittwoch bis Sonntag 10 bis 18 Uhr
Montag geschlossen

24., 25. und 31. Dezember geschlossen
26. Dezember: 10 bis 18 Uhr

Führungen
Dienstag 18.30 Uhr und Sonntag 11.15 Uhr

"Sprengel Museum" Hannover
Kurt-Schwitters-Platz
30169 Hannover
Eines der wichtigsten Gebiete der aktuellen Hirnforschung ist die dynamische Anpassungsfähigkeit des Gehirns, auch Adaptivität oder Plastizität genannt. Adaptivität ist von grundlegender Bedeutung für die Hirnentwicklung und spielt für unterschiedliche Prozesse wie Wahrnehmung, Lernen oder Gedächtnisbildung eine wesentliche Rolle. Adaptive Veränderungen ermöglichen auch in begrenztem Ausmaß eine Kompensation von Hirnschäden und sind für unterschiedlichste Bereiche der kognitiven Neurowissenschaften von Bedeutung. Es gehört zu den großen Herausforderungen der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung, die diesen Prozessen zugrunde liegenden Mechanismen zu verstehen und die komplexen Zusammenhänge aufzuklären, die von einem veränderten Aktivierungsmuster von Neuronen zu definierten kognitiven Leistungen führen. Für die Bearbeitung ist ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich, in dem Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen zusammenarbeiten.

Atelier van Lieshout: Hirnpavillon
Der Hirnpavillon der holländischen Künstlergruppe Atelier van Lieshout zeigt an den Außenwänden die objektive Forscherperspektive der Hirnforschung und im Innenraum die Ich-Wahrnehmung des Künstlers Joep van Lieshout. Wissenschaftliches Thema ist die „Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme“: Wie spielen viele Nervenzellen zu einer einheitlichen Objektwahrnehmung zusammen? Wie wachsen Nervenzellen und wie schafft sich die Software des Gehirns ihre eigene Hardware? Die Darstellung der Perspektive der Hirnforschung gliedert sich an den Außenwänden in die Bereiche Atlas, Nervenzelle und Netzwerk; die Eingangswand bringt einen Überblick über historische Theorien, mit denen der Zusammenhang von Geist, Seele und Gehirn erklärt wurde. Im Inneren des Pavillons zeigt Joep van Lieshout eine apokalyptische Vision seines durch den Freistaat AVL geprägten Künstlerkosmos.
Physik, Chemie und Biologie mit Einzelmolekülen

  Die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sind durch einen rasch fortschreitenden Miniaturisierungsprozess gekennzeichnet. Bei immer kleineren Dimensionen von Bauelementen zeichnen sich heute allerdings Grenzen der konventionellen Mikrostrukturierung ab; es besteht Bedarf an grundlegend neuen Konzepten. Einer der bedeutendsten Ansätze hierzu geht von der Herstellung von Nanostrukturen über ein Baukastenprinzip mit funktionalisierten Molekülen aus. Parallel und bisher weitgehend unabhängig davon verliefen Fortschritte in der supramolekularen Chemie, die sich mit hochkomplexen molekularen Strukturen befasst.

Durch verbesserte experimentelle Techniken aus jüngster Zeit Ö etwa die Rastersondenverfahren oder die ortsaufgelöste Laserfluoreszenzspektroskopie Ö eröffnet sich heute die Möglichkeit, individuelle Moleküle zu untersuchen und ihre Funktion für Anwendungen, zum Beispiel in der Nanotechnik, maßzuschneidern oder auch ihre Wirkung in biochemischen Reaktionsketten aufzuklären. Neue Ergebnisse werden vor allem aus einer disziplinenübergreifenden Zusammenarbeit erwartet.

Christa Sommerer & Laurent Mignonneau: Nano-Scape
Das wissenschaftliche Avantgarde-Thema Nanotechnik entzieht sich noch weitgehend einem breiten Verständnis, von einigen auf Sensation setzenden Debatten abgesehen. Bei der Arbeit "Nano-Scape" hatte die Überlegung, wie man den Nanobereich intuitiv erfahrbar macht, erste Priorität. Es geht zwar in allen Arbeiten von Christa Sommerer & Laurent Mignonneau auch um Wissensvermittlung. Statt reine Fakten zu vermitteln, arbeiten sie aber daran, dieses Wissen durch intuitive Erfahrungen spürbar zu machen. Das Ergebnis liegt häufig an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft.

Die Installation „Nano-Scape" besteht aus vier Tischen, auf denen sich eine jeweils unsichtbare Skulptur befindet. Wenn der Besucher mit seinen Händen über den Tisch streicht, wird er einen Widerstand spüren, jedoch aufgrund der unsichtbaren Rückstoßkräfte den Tisch selbst nicht berühren können. Diese Nano-Skulptur fühlt sich wie eine unsichtbare, feste Oberfläche an.

Erst wenn der Besucher versucht, diese Oberfläche mit seinen Händen zu ertasten, werden plötzlich mehr Feinheiten der Oberfläche spürbar, verschiedene Kraftfelder erkennbar, unter anderem Erhebungen, Vertiefungen, weiche und feste Teile, die einzelne Formen erkennen lassen. Da nichts sichtbar ist, muss sich der Besucher diese Skulptur ertasten. Bei jeder Berührung verändert sich die Skulptur, da sie auf jede einzelne Bewegung und jede Geste reagiert.
Konstruktionen des Fremden und des Eigenen

  Der Themenkomplex "Interkulturalität" ist von zunehmender wissenschaftlicher wie auch politisch-gesellschaftlicher Bedeutung. Welchen Einfluss hat der unter dem Schlagwort "Globalisierung“ diskutierte Strukturwandel auf Identitätsbildungen im interkulturellen Kontext? Auf der einen Seite sehen wir die zunehmende Internationalisierung der Lebenswelt, in der wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg mehr und mehr zur alltäglichen Normalität werden, auf der anderen Seite die wachsende Abschottung und Unduldsamkeit gegenüber kulturell Andersartigem bis hin zum offenen Hass auf "Fremde" und "Fremdes".

Die Wissenschaft sieht sich daher verstärkt gefordert, mit den ihr eigenen Möglichkeiten bessere Voraussetzungen für Verstehen und Handeln im interkulturellen Kontext zu schaffen. Bei den in Rede stehenden Phänomenen handelt es sich um höchst vielschichtige und komplexe Vorgänge, mit Leitbegriffen wie "Kultur", "Identität", "Interkulturalität", "fremd" und "eigen" sind darum keineswegs feste Größen gemeint, sondern prinzipiell variable Resultate fortwährender Abgrenzungs-, Vermittlungs-, Vermischungs- oder auch Überlagerungsprozesse.

Christoph Keller: Expedition-Bus
Expedition-Bus ist ein Ensemble zur Geschichte der kulturellen Globalisierung und zur Perspektive des ethnographischen Films. Nach dem Psychoanalytiker und Philosophen Lacan lernt das Kleinkind im Spiegelstadium mit der Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes zugleich die Unterscheidung von den anderen. Im Mittelpunkt des Beitrags zur Historie der ethnologischen Forschung erzählt ein verspiegelter Campingbus von der Expedition ins Unerforschte und der Spiegelung eigener kultureller Vorstellungen: Alles hatte so harmlos angefangen - könnte als Motto über dieser Installation stehen - und war doch als Ethnographie Teil der Zwiespältigkeit, die heute in der Globalisierung mündet. Der Bus reflektiert die Bilder aller Länder, in die er gefahren wird.
Das Filmmaterial stammt vom Institut für wissenschaftlichen Film, Göttingen, und behandelt das Thema des Schamanismus und der schamanischen Reise. Die Besucher sind aufgefordert, in der Campingsituation ihre eigene Forschungsreise mit dem Film-Archiv des IWF Göttingen zu unternehmen.
Wissenschaft und Öffentlichkeit

  Wissenschaftliches Wissen und seine technischen Anwendungen sind seit der Antike sowohl mit Befreiung als auch mit Unterdrückung assoziiert worden, mit der Macht, Kontrolle auszuüben, aber auch mit der Bedrohung, kontrolliert zu werden, mit Wohlstand für die Menschen, aber auch mit Zerstörung. Diese mit der Wissenschaft verbundene fundamentale Ambivalenz kristallisiert sich um spezifische Themen, die immer wieder auftauchen und in populäre Mythen gegossen werden.

Einer dieser Mythen, wahrscheinlich der stärkste von allen, ist die künstliche Erschaffung menschlichen Lebens. Die Urfigur dieses Mythos ist der archetypische Alchemist Doktor Faust, dessen Famulus Wagner Goethe neben vielen anderen Versuchen einen Homunkulus schaffen lässt. Sein berühmtester literarischer Nachkomme ist Dr. Frankenstein, aber über ihn hinaus hat er noch eine Reihe weiterer Stereotypisierungen inspiriert: Dr. Jekyll, Dr. Moreau, Dr. Caligari, Dr. Strangelove und andere.

Angesichts dessen erscheinen die Bemühungen um das Image der Wissenschaft in der Öffentlichkeit und seine Verbesserung als kurzatmig. Die Mythen reichen offensichtlich sehr viel tiefer, als dass sie sich durch volkstümliche Erläuterungen smarter Fernsehmoderatoren oder "Hands-on"-Expositionen neutralisieren ließen.

M+M: "Gutes Morgen, Dr. Mad!"
Die Videoinstallation lässt in einem endlosen Loop einen Wissenschaftler immer wieder in die gleiche Interaktion mit dem von ihm geschaffenen idealen Homunkulus treten. "Gutes Morgen, Dr. Mad" ist ein klassisches Beispiel für den Mythos der Junggesellenmaschine und zitiert eine ganze Typologie von einsamen Wissenschaftlern aus dem Sciencefiction-Film bzw. der Sciencefiction-Literatur: den unerschrockenen Victor Frankenstein, den zerrissenen Dr. Jekyll und Mr. Hyde, den Filmastronauten David Bowman in Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum", den unglücklich suchenden Protagonisten aus Michel Houllebecques "Elementarteilchen“. Die Figur in der Arbeit von M+M ist aus solchen Protagonisten gesampelt.

Auch sein "Geschöpf" und dessen Verhältnis zum Wissenschaftler greift Vorbilder aus der Sciencefiction auf. Gleichzeitig zeigt es sich als das glücklichere Wesen, im Sinne einer perfekten Generation, frei von den Mühen des Alterns und der sexuellen Triebbestimmung, von der der einsame Wissenschaftler doch nicht loszukommen scheint.
Zukunft

  Die Vorstellung, dass es eine reine Grundlagenforschung gibt, die sich keine Gedanken darüber machen muss, was später mit ihrem Wissen geschieht, wird heute teilweise abgelöst und durch die Idee ergänzt, dass Wissensproduktion in vielerlei Kontexten der Anwendung zustande kommt, in denen das situationsgebundene, kontextabhängige und lokale Wissen eine Rolle spielt.

Zudem spiegeln sich gesellschaftliche Veränderungen in den Wissenschaften wider und umgekehrt. Zum Beispiel lassen sich das Phänomen und der Begriff der Selbstorganisation in der Wissenschaft heute präzise beschreiben und erklären. Gleichzeitig findet in der Gesellschaft eine Entwicklung statt, die von der Idee abrückt, dass es irgendwo eine zentrale Stelle gibt, von der aus die Dinge kontrolliert, gesteuert und geplant werden - etwas, das in den 60er Jahren mit seiner ungebrochenen Planungseuphorie noch durchaus für möglich gehalten wurde. Heute sehen wir, dass dezentrale Strukturen und die Verflechtung von lokalem mit universellem Wissen mindestens ebenso bedeutsam sind. Der Begriff "governance" ist in unserem Vokabular neu aufgetaucht. Es wird nicht mehr regiert, sondern es wird versucht, ein Regelwerk in der Politik zu finden, das es ermöglichen soll, die vielen unterschiedlichen Präferenzen und Interessenslagen zusammenzuführen, ohne dass eine Zentralgewalt vorhanden ist, die das Ganze regelt, überschaut und kontrollieren kann.

Dellbrügge & de Moll: WildCards
Wie sieht die Zukunft in der Wissensgesellschaft aus? Besucher können mit dem überdimensionalen Kartenspiel selbst unterschiedlichste Ansichten zur Zukunft kombinieren. "WildCards" sind dabei jene unvorhersehbaren Ereignisse, die dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben. Zehn der 32 Karten haben Wissenschaftler beigesteuert, weitere zehn wurden von bildenden Künstlern gestaltet.

 
16.12.2002
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